Tagblattturm

Ein spektakulärer Bau

Der Tagblattturm ist eine Institution im Stuttgarter Stadtbild. (Bild: Bea Pötzsch)
Unaufdringlich und trotzdem spektakulär ragt der Tagblattturm 61 Meter empor. (Bild: Bea Pötzsch)
Revolutionär und seiner Zeit voraus war der Tagblattturm 1928/1929. (Bild: Deutsches Bundesarchiv)

Das erste Hochhaus der Welt, das in Sichtbeton ausgeführt wurde, der zu seiner Zeit höchste Paternoster der Welt, das erste Hochhaus in Deutschland in Eisenbeton und das erste Hochhaus Stuttgarts: Der Tagblattturm ist ein Bau mit einigen Superlativen und bleibt doch bescheiden. „Was am Tagblattturm vor allem bestrickt, das sind die Tugenden der Anständigkeit seiner Haltung, der Schlichtheit der künstlerischen Mittel und die fast ideale Unaufdringlichkeit, mit der das ganze bauliche Kunstwerk auftritt“, schreibt ein Architekturkritiker bei der Fertigstellung über den Bau.

Spektakulär und doch nahezu unbekannt

Anständigkeit, Schlichtheit, Unaufdringlichkeit – vielleicht liegt es an diesen schwäbisch anmutenden Tugenden, dass der Tagblattturm als Baudenkmal in Stuttgart nicht sofort ins Auge springt. Die Weißenhofsiedlung oder das Kaufhaus Schocken – die anderen Bauten, die wie der Tagblattturm in den 20er- Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind – übertreffen ihn an Bekanntheit. Zu Unrecht, denn der Tagblattturm ist ein in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht spektakuläres Gebäude – das eigene Antworten gibt auf die Anforderungen, die in dieser Zeit an das „Neue Bauen“ gestellt wurden: radikal neue Bauformen, neue Ästhetik und neue Materialien.

Ein Symbol der Hoffnung in der Wirtschaftskrise

Zu seiner Entstehungszeit gehörten Hochhäuser noch nicht zum normalen Erscheinungsbild deutscher Städte. Gerade mal in Jena, Berlin, in Köln und in Düsseldorf gab es einzelne Exemplare. Doch die Stuttgarter wollten in diesem Punkt nicht zurückstehen. 1921 hatten die Architekten Richard Döcker und Hugo Keuerleber mit ihrer Studie „Hochhäuser in Stuttgart“ die erste Hochhausdebatte ins Rollen gebracht. Die Akzeptanz der neuen Bauform nahm zu, war das Hochhaus doch in Zeiten der Wirtschaftskrise ein Symbol der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Platzmangel als Ausgangspunkt

Als die Geschäftsleitung des Stuttgarter Neuen Tagblatts – damals eine der größten Zeitungen Süddeutschlands – 1926 das erste Baugesuch für den Tagblattturm einreichte, hatten sich schon einige wichtige Stellen der Stadt für ein Hochhausprojekt erwärmt. Allerdings war noch kein Hochhausplan realisiert worden. Die Druckereigebäude waren für die Zeitung zu klein geworden, doch Grundstücke in der Umgebung waren nicht zu erwerben.

Der Entwurf eines Stuttgarters setzt sich durch

1924 beauftragte das Stuttgarter Neue Tagblatt den Stuttgarter Architekten Ernst Otto Osswald mit der Erweiterung der Firmengebäude. Osswald reichte einen Plan für ein Haus mit L-förmigem Grundriss auf einer Fläche von nur 9 auf 15 Metern und 16 Vollgeschossen in einer Gesamthöhe von 55 Metern ein. Die Bauabteilung des Stuttgarter Gemeinderats traute den Plänen des bisher unbekannten Architekten nicht. Ein Wettbewerb wurde ausgelobt, an dem sich auch die großen Namen der Stuttgarter Architekten-Szene beteiligten, wie etwa Paul Bonatz. Doch der Osswald- Entwurf setzte sich durch, der Gemeinderat erteilte nach einigen Diskussionen die Baugenehmigung.

18 Geschosse, 61 Meter hoch

Am 28. November 1928 wurde der Tagblattturm eingeweiht. Er war inzwischen auf 18 Vollgeschosse, auf eine Höhe von insgesamt 61 Metern, angewachsen und damit neben dem Kölner Hansa-Hochhaus das höchste Gebäude der 1920er-Jahre.

Internationale Aufmerksamkeit

Der Neubau erhielt viel Beifall und Aufmerksamkeit – auch international. Beim PSFS-Tower in Philadelphia etwa ist der Einfl uss des Tagblattturms deutlich sichtbar. Der PSFS-Tower gilt als das erste Gebäude des Internationalen Stils in den USA.

Weniger ist mehr

Osswald hatte einen Baukörper geschaffen, der den Leitsätzen des Neuen Bauens, wie sie Mies van der Rohe („less is more“ – weniger ist mehr) und Louis Sullivan („form follows function“ – die Form folgt aus der Funktion) formuliert hatten. Er verzichtete auf schmückende Ornamente und setzte die funktionalen Teile als gestaltende und charakteristische Elemente ein: aneinander gefügte Sichtbetonquader mit unterschiedlicher Rückstaffelung, horizontale Fensterbänder und über Eck geführte Balkone. Aufsehen erregend war das Beleuchtungskonzept, das die schlichte Bauform bei Nacht nachzeichnete.

Eisenbeton stabilisiert den Bau

Auch beim Einsatz des Materials bewies Osswald Mut und Modernisierungswillen. Während bei den Hochhäusern in den USA noch Stahlskelette das Gerüst bildeten, setzte Osswald als Erster Eisenbeton ein, bei dem Stahlstäbe den Bau stabilisieren, die in die Schalen einbetoniert werden. Ein Verfahren, das Statiker der Technischen Hochschule Stuttgart mitentwickelt hatten.

Unsichtbares wird sichtbar

Normalerweise blieb Beton unsichtbar – etwa bei den Häusern von Le Corbusier in der Weißenhofsiedlung. Erst in den 1950er-Jahren machte Le Corbusier die Bauweise des „béton brut“ populär, bei der der rohe Beton mit Abdrücken von hölzernen Schalen als Gestaltungselement eingesetzt wurde. Auch hier war Osswald schon einen Schritt voraus: Die Fassade des Tagblattturms blieb unverputzt, die Betonoberfl äche wurde lediglich mit dem Stockhammer nachbearbeitet: Das erste Hochhaus mit Sichtbeton auf der ganzen Welt.

Modernes Großstadtherz

Zusammen mit dem eleganten Erich-Mendelsohn-Bau des Kaufhaus Schocken bildete der Tagblattturm lange Jahre das moderne Großstadtherz Stuttgarts. Das Ensemble überstand die Angriffe des Zweiten Weltkrieges wie durch ein Wunder nahezu unbeschädigt. Doch während das Kaufhaus Schocken in den 1950er-Jahren dem veränderten Architekturgeschmack geopfert wurde, überlebte der Tagblattturm einige neue Trends und wurde 1979 unter Denkmalschutz gestellt. Unaufdringlichkeit kann eine sehr nützliche Tugend sein. (AS)

06.03.2010
(Ausgabe März 2010)