Kontaktfreudig, neugierig und voller Hoffnung: Jugendliche in Afghanistan.

Foto-Reporter in Afghanistan

Informationen aus erster Hand

Johannes Müller ist nicht der Typ, der am Samstag eine Leinentischdecke und Silberbesteck in seinen Picknickkorb packt und den nächsten Park ansteuert. Der Marketingprofi brettert schon eher mit seinem Mountainbike die Hänge rund um Stuttgart hinunter – in einem Tempo, das den Alltags-Radler schwindelig werden lässt. Da verwundert die Aussage „Eigentlich bin ich ja schon eher der sicherheitsbewusste Typ“ dann doch einigermaßen.

Interesse an außenpolitischen Brennpunkten

Umso mehr, als die Downhill-Ausritte des 36-Jährigen geradezu harmlos anmuten im Vergleich zu dem Abenteuer, auf das sich Johannes Müller diesen Sommer eingelassen hatte: Der Stuttgarter begleitete als Foto-Journalist deutsche Soldaten in Afghanistan. „Außenpolitische Brennpunkte haben mich schon immer interessiert“, erklärt Müller, der im „normalen“ Leben Leiter der Marketingkommunikation eines international tätigen Stuttgarter Unternehmens ist.

Schluss mit Informationen aus zweiter Hand

Vor allem Zentral- und Südasien haben es ihm angetan, hier speziell eben Afghanistan. „Es ist ein so wunderschönes und stolzes Land“, sagt Müller. „Ich hatte schließlich genug davon, Informationen immer nur aus zweiter Hand zu erhalten. Ich wollte selbst dort hin, wollte mir selbst ein Bild machen.“ Nur allzu leicht öffne sich die Schublade „hoffnungsloser Fall“ oder „Radikale Islamisten“ und – schwupp – verschwinde mal eben ein ganzes Land darin.

Viel Überzeugungskraft nötig

Doch nach Afghanistan zu reisen, ist gar nicht so einfach. „Wir brauchen nicht drum rum reden: Je nach Region kann man entweder von kriegsähnlichen Zuständen oder einfach nur von Krieg sprechen“, ist Müller realistisch. Durch lange Vorarbeit mit Hilfe der NATO und viel Überzeugungskraft konnte er schließlich im Sommer dieses Jahres als Foto-Reporter loslegen – und beeindruckende Bilder machen.

Begeisterung über das Projekt „Skateistan“

„Dass es dort nicht ganz ungefährlich ist, liegt auf der Hand“, erzählt Müller – Helm und schusssichere Weste gehören zur Grundausstattung. Doch auch, wenn „Afghanistan noch lange nicht dort ist, wo es die internationale Gemeinschaft gerne sehen würde“, hat Müller viel Positives erlebt. Seine Augen leuchten, wenn er beispielsweise von „Skateistan“ erzählt, einer Skateboard-Schule, die als humanitäres Hilfsprojekt für Kinder und Jugendliche in Afghanistan im Jahr 2007 gegründet wurde.

Mit dem Skateboard zur Zielerreichung

Die Ziele des ambitionierten Projektes sind umfassend: Kindern in Kabul neue Perspektiven eröffnen, Vorurteile abbauen, Gleichberechtigung fördern, wichtige Kenntnisse vermitteln. Aber auch, Freude in das Leben von jungen Menschen zu bringen, die ansonsten wenig zu lachen haben. Das Skateboard ist dabei Vehikel, diese komplexen Ziele zu erreichen.

Bildung und Skaten

Doch in der 1.750 Quadratmeter großen Skate-Halle haben nicht nur Half Pipes und Rampen ihren Platz gefunden, der Verein bietet auch Bildungsangebote wie Computer-Kurse an. „Wer nicht lernt, darf auch nicht skaten“, lacht Müller, den die Begeisterung und die Leidenschaft, mit der die Jungs und Mädchen bei der Sache sind, völlig fasziniert hat. „Diese Generation will etwas bewegen“, ist Müller überzeugt. „Diese Jugendlichen sind wissbegierig, offen und neugierig.“

Ein Lächeln für Deutsche

Und sie haben Vertrauen – zumindest zu den deutschen Soldaten, berichtet Müller von seinen Erfahrungen: „Sobald klar war, dass ich aus Deutschland komme, haben mir die Menschen ein Lächeln geschenkt.“ Der Grund liegt für den Marketingprofi auf der Hand: „Was insbesondere die Bundeswehr hier leistet, ist beeindruckend. Ich war erstaunt, wie stark die Soldaten ihre Aufgabe verinnerlicht haben.“

Kleine Erfolge beim Aufbau von Bildung und Wirtschaft

Da werden dann auch mal fix Schulbänke zusammengezimmert, damit die Kinder im Unterricht sitzen können. Denn „nur militärisch kann man dieses Land nicht befrieden“, ist Müller überzeugt, „Nachhaltiger Aufbau von Bildung und Wirtschaft“ laute vielmehr die Devise. Und erste, kleine Erfolge ließen sich an jeder Ecke beobachten. „Überall gibt’s irgendeine Form von Business“, zeigt sich Müller beeindruckt – kleine Geschäfte, notdürftig errichtet, aber doch ein Ausdruck der Hoffnung.

Schönes Land mit stolzen Menschen

Stolze Menschen habe er getroffen in diesem geschichtsträchtigen Land, dessen raue Schönheit ihn so sehr fasziniert. „Wenn Du über den Hindukusch fliegst, vorbei an den sieben Seen von Band-e-Amir – das ist Gänsehaut pur.“

Unüberschaubare Situation

Doch bei allem Positiven, das Müller erfahren hat: Naiv ist er nicht. „Die Situation zwischen den einzelnen ethnischen, sozialen aber auch lokalen Gruppierungen, der internationalen Schutztruppe ISAF und weiteren zahllosen nationalen wie internationalen Interessensgruppen ist nahezu unüberschaubar.“

Große Verantwortung des Westens

Von einer pauschalen Verurteilung der Menschen dort hält er freilich nichts. Vielmehr sei Pragmatismus das Gebot der Stunde: Die westliche Staatengemeinschaft habe eine große Verantwortung in der Region – mit Blick auf die Historie als auch auf die Zukunft – und müsse deshalb helfen – militärisch, wirtschaftlich und bildungspolitisch.

Leid und Hoffnung

Und ja, die Religion werde für Selbstmordattentate missbraucht, auch hätten gewisse Strömungen in Anrainerstaaten kein Interesse an einem befriedeten Afghanistan. Trotzdem, oder gerade wegen dieser Diskrepanz zwischen unbeschreiblichem Leid und ungestümer Hoffnung, plant Müller bereits die nächste Reise in den südasiatischen Binnenstaat am Hindukusch.

Nächste Reise mit Wiedersehen

Vielleicht trifft er dann auch die amerikanischen Professoren wieder, die jungen Afghanen Stipendien an ausländischen Universitäten vermitteln, damit sie anschließend – gut ausgebildet – beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Heimat helfen können. Oder den ehemaligen Skateboard-Profi aus Schweden, der die Jungs und Mädels in „Skateistan“ betreut. Oder die amerikanischen GIs, die sich in einem Freizeitpark bei Mazar-E-Sharif zwischen Plastikbambis eine kurze Pause gönnen. Wenn er dann wieder zurück ist in Deutschland, wird er wieder viele Geschichten zu erzählen haben – kleine und große, traurige und anrührende. Und es werden wieder Informationen aus erster Hand sein. (OS)
Die große Fotoreportage lesen Sie am 24. September 2011.

Mag Land und Leute: Johannes Müller (li.)
12.09.2011
(Ausgabe 10. September 2011)