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Vesperkirche
Nächstenliebe pur
700 ehrenamtliche Helfer organisieren die Hilfe für Bedürftige in der Vesperkirche.
Ihren Namen möchte die Frau nicht nennen – der tut nichts zur Sache. Auch fotografiert werden will sie nicht. Ihr krauses Haar hat sie mit einem lila Schal zurück gebunden. Sie ist viel im Freien, schläft oft und hat keinen Kontakt zu anderen Menschen.
Platz für interessante Gespräche
Die Vesperkirche ändert das, erzählt sie, wenn auch nur für ein paar Wochen im Jahr. Hier fühlt sie sich wohl, führt interessante Gespräche. Gerade ist sie in einer Diskussion über das Thema Einsamkeit. „Nicht jeder, der allein ist, ist einsam. Und manchmal fühlt man sich einsam, obwohl man Freunde und Familie um sich hat. Wo beginnt also Einsamkeit?“
Kontakte pflegen ist ihr Problem
Früher hat sie in einem Büro gearbeitet. Ihr Problem sind Kontakte. Das kann sie nicht, erklärt sie, Kontakte knüpfen und pflegen. Das begann schon, als sie noch ein Kind war. Sie kenne noch nicht mal ihre Familie, weil ihre Eltern keinen Wert auf Kontakte legten, erzählt sie. So begannen ihre Probleme in der Gesellschaft. Deshalb ist sie heute und an allen anderen Tagen in der Vesperkirche.
Arm und alkoholabhängig
Reinhard ist Alkoholiker. Letzte Woche hatte er einen Rückfall, gestern wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Zurzeit kann er sich keine Medikamente kaufen, da er die Rechnung vom Krankenhaus noch nicht bezahlt hat. Deshalb ist er noch nicht von den Kosten der Medikamente befreit.
20 Jahre Sozialhilfe und Hartz IV
Vor kurzem hat man ihm die Wohnung gekündigt. Eine neue wurde ihm schon zugeteilt, er hat noch nicht zugesagt. Seit 20 Jahren lebt er von Sozialhilfe, später dann von Hartz IV. Er hat drei Ehen hinter sich, ist chronisch krank.
Als Mensch behandelt
Seine große Leidenschaft ist das Skatspielen. In der Vesperkirche hat er Spielpartner gefunden. „Hier kann ich billig essen“, erklärt er. „Außerdem wird man in der Kirche wie ein Mensch behandelt. Man muss sich nicht wegen seinem Schicksal verstecken.“
Ein Ort zum Erholen
Wenn sich die Leonhardskirche ein Ziel gesetzt hat, dann dass sich Menschen wie Reinhard und die anonyme Frau wohl fühlen. Sieben Wochen im Jahr, vom 17. Januar bis 6. März 2010, öffnet die Leonhardskirche ihre Türen für Obdachlose, Prostituierte, Drogenabhängige und verarmte Menschen.
Ärztliche Versorgung, Gespräche, Essen und Trinken
Sie alle finden in der Vesperkirche einen Platz. Sie werden mit warmen Getränken und Essen versorgt. Ärztliche Versorgung, ein Haarschnitt und Sozialbetreuung stehen ihnen ab 9 Uhr zur Verfügung. Das Essen wird ab 11.30 Uhr ausgeteilt – für 1,20 Euro die Portion. Die Schlangen sind lang, die warme Mahlzeit mit Salatteller ist begehrt.
700 ehrenamtliche Helfer stemmen das Projekt
All diese Hilfe wird von etwa 700 ehrenamtlichen Helfern organisiert, die anpacken und den Gästen der Vesperkirche mit Tat und auch Rat zur Seite stehen.
Keiner verbirgt sein Schicksal
Ingeborg ist eine davon. Sie bestätigt, was Reinhard erzählt hat: „Hier in der Vesperkirche sind alle Menschen ehrlich. Keiner muss dem anderen etwas vorspielen oder sein Schicksal verbergen.“ Sie hat ihren Jahresurlaub genommen, um in der Vesperkirche zu helfen.
Die Gespräche sind wichtig
Sechs Wochen lang arbeitet sie von Montag bis Samstag – Brote schmieren, Tee und Kaffee ausschenken, Essen verteilen. Aber vor allem spricht sie mit den Gästen und behandelt sie nicht wie Außenseiter der Gesellschaft.
Schnell kann es einen selbst treffen
Was sie zu so viel Engagement motiviert, sind Mitgefühl und Verständnis: „Ich habe es selbst gesehen, wie schnell man abstürzen kann. Man verliert die Arbeit, ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft einen und schon steht man allein da.“
"Schön, dass es euch gibt."
Außerdem, so sagt sie, geben einem die Gäste die guten Taten zurück. „Das schönste, das mir ein Mensch gesagt hat, war: ‚Schön, dass es euch gibt‘. Das ist Motivation genug.“
Wer will, findet auch die Zeit zum Helfen
Einmal die Woche hilft Nora fünf Stunden lang in der Vesperkirche. Nora ist 25 und studiert an der Universität Stuttgart. „Wenn man wirklich helfen will“, sagt sie, „findet man immer Zeit dafür. Man muss es nur wollen.“Nora will helfen. Und das aus einem einfachen Grund: „Weil es Sinn macht. Die Hilfe kommt dort an, wo sie wirklich gebraucht wird.“
Nur für das Nötigste
In Stuttgart leben etwa 49.000 Menschen von Sozialhilfe oder Hartz IV. Ihr monatliches Einkommen reicht gerade für das Nötigste. Ältere Menschen müssen mit einer Rente auskommen, die selbst die wichtigsten Ausgaben nicht deckt. Die Menschen, die in die Vesperkirche kommen, hat das Schicksal hart getroffen.
Mehr Helfer als nötig
Ingeborg meint, dass mehr Menschen helfen sollten. Entweder durch direkte Mithilfe oder durch Spenden. Dazu hat Diakoniepfarrerin Karin Ott eine gute Nachricht: „Jedes Jahr wollen mehr Menschen aktiv bei der Vesperkirche in Stuttgart mithelfen, als wir effektiv brauchen.“
Schämen für sein Schicksal?
Um 16.15 Uhr schließt die Vesperkirche ihre Türen, am 6. März zum letzten Mal in diesem Jahr. Die anonyme Frau verabschiedet sich und erklärt: „Mit den Armen ist es wie mit den Einsamen: Man erkennt nicht alle von ihnen. Und warum nicht? Weil sie sich schämen, ihr Schicksal in der Gesellschaft offen zuzugeben.“
(JUS)
Die Vesperkirche ist ein Ort der Geselligkeit, aber auch der Ruhe.
Die Schlange an der Bonausgabe für das Essen ist lang.
06.02.2010
(Ausgabe Februar 2010)