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Feinfühlige Milieustudie: Misstrauen und Angst gehen um in einer Mittelklasse-Wohngegend.
20. Jubiläum des CineLatino
Viva la Cinema
Es wäre ein großer Fehler, die Filmkultur Spaniens und Lateinamerikas ausschließlich mit temperamentvollen Filmen über Karneval, Tango und die wohlverdiente Siesta gleichzusetzen. Sicher, Streifen wie diese gibt es auch beim diesjährigen CineLatino. Die 20. Ausgabe des wichtigsten deutschen Festivals für lateinamerikanisches und spanisches Kino zeigt vom 18. bis zum 24. April 2013 jedoch, wie viel mehr es in der Filmkultur dieser Länder zu entdecken gibt. Aktuelle Tendenzen hält Festivalleiter und -gründer Paulo de Carvalho bereit. „Der lateinamerikanische Film ist heute allgemein weniger eindeutig politisch, aber vielfältiger und auch näher an den persönlichen Geschichten und Themen der Regisseure orientiert“, weiß er.
Höhere Qualität in der Filmproduktion
Der abnehmende Grad der Politisierung hat für ihn eindeutige Gründe, die in der nicht immer ganz einfachen politischen Lage der Länder Südamerikas zu verorten sind. „Mit der Demokratisierung der meisten Staaten, die Jahrzehnte von Militärregierungen geprägt waren, und mit zunehmender wirtschaftlicher Stabilität wurde auch die Filmproduktion selbst stabiler. Außerdem wird sie in den meisten Ländern stärker gefördert.“ Für ihn schlägt sich das in der höheren Qualität der Produktionen nieder, die in den letzten Jahren vermehrt auch auf großen Filmfestivals zu sehen waren.
Lateinamerika
„Jedes größere Filmfestival hat heute lateinamerikanische Beiträge in den offiziellen Sektionen integriert“, so de Carvalho. Es sei allerdings schwer, über einen gesamtlateinamerikanischen Film zu sprechen, meint er. Zu unterschiedlich seien dafür die kulturellen Hintergründe der einzelnen Länder, zu riesig der Kontinent. „In den 1960er- und 70er-Jahren gab es noch die Bewegung des ‚Cinema Novo‘, die den ganzen Kontinent erfasste und unter anderem in der Kritik der politischen Systeme einte. Heute ist die Filmkultur viel verzweigter.“ Und abwechslungsreicher: Jedes Land, jede Region, jeder Filmemacher entwickelte eigene Erzählformen, die nun beim CineLatino zu sehen sind.
CineEspañol
CineEspañol
Lateinamerika ist jedoch nur die eine Hälfte des Festivals. Seit zehn Jahren ist das CineEspañol im Festivalprogramm integriert, um den spanischen Film zu würdigen. Der steckt allerdings – wie die Wirtschaft – tief in der Krise. „Für 2013 werden 50 Prozent weniger Filme als bisher prognostiziert“, vermeldet Paulo de Carvalho. Das sind alles andere als gute Neuigkeiten. Dennoch macht diese Not erfinderisch: „Eine Reihe von Filmemachern, die mit kleinen, unabhängigen und experimentierfreudigen Produktionen stets weniger Aufmerksamkeit bekamen, erleben einen Aufschwung.“ Das Independent- Kino boomt, die Macher nutzen das Internet, um ihre Werke zu verbreiten. „Genau auf diese Riege spanischer Kreativer weisen wir innerhalb des diesjährigen CineEspañol mit dem Schwerpunkt ‚Junge spanische Welle‘ hin.“
Schwerpunkt Argentinien
Außerdem im Programm: der Länderschwerpunkt Argentinien, eine Retrospektive über den 1981 verstorbenen Ausnahmeregisseur Glauber Rocha und natürlich jede Menge Filme. „18 comidas“ etwa erzählt von einem Tag, sechs Geschichten und 18 Mahlzeiten. „Vom Frühstück bis zum Abendessen begleitet der Film seine Figuren durch die kulinarische Welt Santiago de Compostelas, die sich beim Essen offenbaren, streiten und lieben.“ Auch ein anderes stereotypes Thema, der Tango, kommt zum Einsatz. Ansonsten locken feinfühlige Milieustudien aus Vororten („O som ao redor“), surreale Traumreisen („Animals“) oder Skurill-Anrührendes („No hay pan“) vor die Leinwand – bunt, ehrlich, temperamentvoll und sensibel. Das CineLatino bringt dem Publikum eine Kinokultur näher, die in Westeuropa noch immer viel zu wenig beachtet wird – und noch dazu selten auf der großen Leinwand zu sehen ist.
Tübinger Publikumspreis
Wie bei jedem Festival, steht auch beim CineLatino der Wettbewerb im Vordergrund. Neun Filme gehen hier ins Rennen um den Tübinger Publikumspreis, der am 24. April 2013 im Museum Kino vergeben wird. Hoch gehandelt wird „A floresta de Jonathas“, eine sensible Studie zwischen unberührter brasilianischer Natur und Großstadtdschungel, oder aber „El limpiador“, die morbide Geschichte eines Tatortreinigers, dem das Schicksal plötzlich ein Kind vor die Füße legt. „Wie jedes Jahr erwarten wir außerdem Gäste aus Lateinamerika und Spanien, können zum gegenwärtigenZeitpunkt aber noch nicht viele Namen nennen“, lässt der Festivalleiter verlauten.
Filmemacher Daniel V. Villamediana
„Fest steht, dass der junge spanische Regisseur Daniel V. Villamediana in einer Masterclass an der Universität Tübingen eine unkonventionelle Art des Filmeschaffens vorstellen wird.“ Festivalbegleitend: Partys, Ausstellungen und jede Menge weitere Gründe, um auf dieses schöne Jubiläum anzustoßen. „Wir haben schließlich doppelt Grund zum Feiern“, grinst de Carvalho. Er zumindest ist zuversichtlich: Auch in den nächsten 20 Jahren wird es nicht an spannenden Themen mangeln, sowohl der lateinamerikansiche als auch der spanische Film werden uns also noch lange mit Leckerbissen jenseits von Tango, Fiesta und Zuckerhut erfreuen. (BS)
Weitere Informationen:
www.filmtage-tuebingen.de/latino
06.04.2013
(Ausgabe 6. April 2013)