Veggie Street Day 2011

Stuttgart vegan

An dieser Wurst stimmt was nicht - sie ist vegan. (Bilder: Robert Kresse)
Vegan ist lecker und macht scheinbar gute Laune.

Der Stuttgarter Marktplatz ist am Pfingstsonntag gut gefüllt. Vor Ständen mit bunten Dächern tummeln sich Besucher, auf der Bühne vor dem Rathaus sorgt eine Sängerin mit Gitarrenbegleitung für musikalische Unterhaltung. Rund herum sind Bierbänke- und Tische aufgestellt. Alles wirkt auf den ersten Blick wie bei einem ganz normalen Straßenfest. Erst beim genaueren Hinsehen, oder wenn man Hunger bekommt, bemerkt man, dass hier einiges anders ist, als bei anderen Straßenfesten. Nach der obligatorischen Roten Wurst oder dem Steakbrötchen sucht man hier vergebens. Anstatt dessen gibt es Veggie Burger, Veganes Rührei und rote Linsen mit Reis, dazwischen Stände mit tierversuchsfreier Kosmetik, mit Kleidung ohne tierische Erzeugnisse, wie Leder und mit Informationen über Veganismus und Tierbefreiung. An kaum einem anderen Tag dürfte es tiergerechter auf dem Stuttgarter Marktplatz zugehen, denn in Stuttgart findet der zweite Veggie Street Day statt – ein rein veganes Straßenfest.

Rührei ohne Ei

Für einen Veganer sind alle von Tieren erzeugten Lebensmittel tabu, dazu gehört selbstverständlich Fleisch, aber auch Milch, Käse, Eier und Honig sind nicht Bestandteil einer veganen Ernährung. Beim Durchschlendern zwischen den Ständen das erste Stutzen: An einem der Stände wird Rührei angeboten. Eier werden von Hühnern gelegt, damit sind sie ein tierisches Erzeugnis. Vielleicht sollte man die Standbetreiber warnen, damit sie sich hitzige Diskussionen über das Elend von Legebatteriehennen ersparen. Oder ist es möglich Rührei ohne Ei herzustellen? Nachfragen bei der Dame hinter der Verkaufstheke bringt Aufschluss: Sie erklärt, dass das Rührei natürlich kein Ei enthält, sondern gebratenen Seidentofu mit Zwiebeln, Kräutern und Kurkuma für die gelbe Farbe. Ein nettes älteres Ehepaar bestätigt die Auskunft der jungen Frau und schwärmt, dass neben Rührei der vegane Kaiserschmarrn ihrer Tochter bei der ganzen Familie beliebt sei. Genau im richtigen Moment kommt die Tochter herbei. Sie ist Veganerin, seit sieben Jahren, ihre Eltern sind Vegetarier. Schnell werden noch E-Mail-Adressen für die Rezeptübergabe getauscht.

Veganes Essen – gesund oder mangelhaft?

Der akute Süßhunger lässt sich nun aber erst einmal am Kuchenstand stillen. Eine kleine Auswahl von Rhabarberkuchen und Muffins soll klären, ob man als Veganer nicht nur mit Essgewohnheiten, sondern auch mit der lieb gewonnenen Kaffee- und Kuchentradition brechen muss. Die erleichternde Antwort lautet: Nein. Der Rhabarberkuchen und der Donauwellenmuffin schmecken fast wie Backwerke, die mit Milch und Eiern hergestellt sind. Auch der Test von Quinoa mit Gemüse und Reis mit roten Bohnen fällt positiv aus. Vertraut man der Schlange am Stand mit den Veggie-Burgern, so dürften sie der Verkaufs- und Geschmacksschlager auf dem Veggie- Street-Day gewesen sein. Sie schmeckt also, die pflanzliche Kost, aber ist eine vegane Ernährung überhaupt gesund oder ist sie durch das Fehlen tierischer Lebensmittel vielmehr eine Mangelernährung? Kurz nach der Mittagszeit widmete sich Dr. Markus Keller vom Institut für alternative und nachhaltige Ernährung dieser Fragestellung. Die vollen Bänke im Infozelt zeugten davon, dass auch die Besucher nicht ganz unbesorgt um ihre Nährstoffversorgung sind. Dr. Markus Keller stellt in seinem Vortrag eine Hand voll kritischer Nährstoffe, wie Vitamin B 12, Kalzium und Eisen, vor. Kritisch bedeutet in diesem Fall, dass die Versorgung bei einer rein pflanzlichen Ernährung regelmäßig überprüft werden sollte und dass mit gezielter Lebensmittelauswahl und der Einnahme von Vitaminpräparaten gegen einen Mangel vorgegangen werden sollte. Sonst sind Veganer aber mindestens genauso gut mit Nährstoffen versorgt wie Menschen, die auch tierische Lebensmittel essen.

Eine Frage der Moral

Fernab von Nährstofftabellen, feinstofflicher Vitaminbedürfnisse und hedonistischer Geschmackstests steht hinter dem veganen Grundgedanken natürlich eine tiefer gehende, moralische Überzeugung. Ein veganes Leben richtet sich bewusst gegen die Ausbeutung anderer Lebewesens, es geht darum das Leiden von Tieren zugunsten des eigenen Wohlfühlens zu vermeiden. Karen Duve hat diese Einstellung im Rahmen eines Selbstversuches verinnerlicht. In ihrem Buch „Anständig essen“, aus dem sie einige unterhaltsame aber gleichzeitig nachdenklich machende Auszüge zum Besten gibt, berichtet sie davon. Angestoßen von der Infragestellung ihres eigenen Wertesystems, lebte sie verschiedene Ernährungsformen: Von einer Etappe, in der alle Lebensmittel erlaubt waren – aber eben ausschließlich in Bio-Qualität – über eine vegetarische Phase, bis hin zur veganen und danach sogar zur frutarischen Lebensweise. Dabei ging es ihr nicht nur darum, wie ein Vegetarier oder ein Veganer zu essen, sondern die jeweilige Überzeugung anzunehmen.

Das Gewissen entscheidet

Ihr Fazit bescheinigt den Veganern Disziplin und eine hochentwickelte Moral, was sie selbst aber nicht automatisch zu einem solchen macht. Karen Duve ernährt sich heute vegetarisch. Dieser ehrliche Schluss mag inkonsequent erscheinen, vielleicht aber nur dann, wenn man selbst nie versucht hat, sich vegan zu ernähren. Eine Entscheidung für eine rein pflanzliche Ernährung ist mit Sicherheit eine, die Tieren ein Höchstmaß an Respekt und Wertschätzung entgegen bringt, gleichzeitig aber den Bruch mit vielen Gewohnheiten bedeutet und auch das soziale Leben vor Herausforderungen stellt. Eine Entscheidung, die nicht einfach ist und die davon abhängt, was das eigene Gewissen in Bezug auf den Umgang mit Tieren ertragen kann. Vielleicht ist es ganz gut, wenn man diese Entscheidung nicht selbst treffen muss, wie beispielsweise die drei Dobermänner des Verkäufers eines veganen Gemischtwarenstandes. Er verkauft Dosen mit veganem Hundefutter. Für sehr strenge Veganer ist allerdings bereits das Halten von Haustieren nicht tiergerecht. Gefüttert werden die Tiere aber mit gutem Gewissen: Die Packungsaufschrift versichert, dass das Futter rein vegan ist und von Menschen getestet wurde. Und der Verkäufer sagt: „Meinen Hunden geht es damit gut.“ (MM)

18.06.2011
(Ausgabe 18. Juni 2011)