Harry Fischer bringt Kindern Poesie nahe.

Berufspoet aus Stuttgart

Wenn Poesie Purzelbäume schlägt

...dann steckt der Stuttgarter Harry Fischer dahinter. Der Berufspoet besucht Deutschlands Schulen und nimmt Kinder mit auf eine poetische Reise.
GOOD NEWS: Herr Fischer, wie sind Sie zum Dichten gekommen?
Harry Fischer: Als eines von zehn Geschwistern in einer Vierzimmerwohnung habe ich mir bereits als Kind in der Welt der Bücher mein eigenes Refugium geschaffen. Da es bei uns immer sehr laut war und ich mich kaum konzertieren konnte, fing ich an, mir kostbare Sätze und Zeilen aufzuschreiben. Irgendwann hat es mich dann gepackt und ich begann selbst zu dichten.
GOOD NEWS: Was war der Auslöser, Kindern Poesie zu vermitteln?
Harry Fischer: Meinen Kindern habe ich schon oft einfache, kleine Gedichte vorgelesen, die ihnen immer sehr gut gefallen haben. Eines Tages fingen sie selbst an mir ihre Träume, Wünsche, Empfindungen und auch erste eigene Gedichte zu diktieren oder selbst aufzuschreiben. Als mir bewusst geworden war, wie ausgeprägt das poetische Denken bei Kindern ist, wie groß ihre Kreativität und Freude am Dichten sein kann, begann ich an Schulen mit Kindern auf poetische Reisen zu gehen.
GOOD NEWS: Finden Kinder Poesie nicht langweilig?
Harry Fischer: Ganz im Gegenteil, Kinder sind geborene Poeten. Man muss ihnen nur die Berührungsängste nehmen. Die meisten verbinden Poesie mit Auswendiglernen. Meine Gedichte sind einfach strukturiert und gut zugänglich. Die „Regentropfensprache“ zum Beispiel wird runter erzählt, und die Kinder dürfen mit ihren Fingern Regen machen und auf dem Tisch trommeln. Nach einer dreiviertel Stunde poetischer Reise wollen dann alle einen Bleistift haben, um selbst loszulegen.
GOOD NEWS: Machen da wirklich alle mit?
H arry Fischer: Ja. Es passiert sehr oft, dass Lehrer zu mir kommen und erzählen, dass selbst die größten Klassenrabauken still sind und zuhören, und dann auch noch ihr eigenes Gedicht verfassen. Wenn man es schafft, dass Kinder sich artikulieren, dann ist schon viel erreicht.
GOOD NEWS: Ist es das, worum es Ihnen geht? Dass Kinder sich artikulieren?
Harry Fischer: Auch, ja. Aber einer meiner wichtigsten Intentionen ist es, den Schülern durch die Poesie Genügsamkeit zu vermitteln, d.h. zu zeigen, dass das Leben an sich ein Zauberreich ist, in dem es immer wieder Schönes zu entdecken gilt. Wir leben in einer Zeit, in der das genaue Hinschauen, das Wahrnehmen der kleinen Dinge immer mehr verloren geht, vor allem wegen der immensen Reizüberflutung durch die Medien. Und dann möchte ich natürlich, dass die Kinder auch selbst etwas schaffen. Ich gehe nicht bloß rein, um etwas vorzulesen und wieder zu gehen. Mein Gehen soll erst der Anfang sein. Am Ende bekommt jede Klasse ein Gedichtband mit allen Gedichten der Schüler. Alle Kinder sollen Stolz auf ihre Poesie sein.
GOOD NEWS: Bereits über 900 Mal haben Sie mit Kindern Ihre poetische Reise unternommen, werden Sie von den Kindern noch überrascht?
Harry Fischer: Überrascht bin ich immer wieder über das unerschöpfliche Ideenpotenzial der Kinder. So dichtete ein Zweitklässler, dessen Opa Briefmarken sammelt: „Briefe sind nie etwas Schiefes, sie haben vier Ecken, die nicht schmecken.“ Oder ein anderer Zweitklässler, dessen Opa gestorben ist, verfasste die Zeilen: „Der Tod kommt, wann er will, klopft nicht an. Wenn das Leben nicht mehr hält, kommst Du in den Himmel.“ Das ist wahnsinnig schön formuliert und das bereits in der 2. Klasse!
GOOD NEWS: Und wenn einem dann doch mal nichts einfällt
Harry Fischer: Wenn einem mal nichts einfällt, dann sage ich: mach doch ein Gedicht über das leere Blatt, oder einfach darüber, dass dir nichts einfällt – so einfach ist das. Auch Gedichte wie „der Ball knallt an die Latte, kriegt ne Macke, Luft geht raus, das Spiel ist aus,“ oder „der Löwe ist ein gutes Tier, er frisst dich zwar, doch er ist nicht hier,“ haben ihren Charme. Mein Axiom ist es, jeder soll dichten, über was er will – frei von Wertung.
GOOD NEWS: Joseph Beuys sagte, jeder ist ein Künstler, sagen Sie, jeder ist ein Dichter?
Harry Fischer: Beuys mag nicht unrecht haben, vor allem, wenn man die Wertung weglässt. Ich weiß, dass in unserer Gesellschaft Leistung und das Kommerzielle zählen, das sollte man aber bei der Poesie weglassen. Ich werte die Poesie der Schüler und Schülerinnen nicht, deswegen bin ich der Meinung, dass in jedem ein Dichter steckt. Man muss ihn nur herauslocken. Es wäre schön, wenn in unserer Gesellschaft nur die Intention, die Absicht mehr zählen würde als die Leistung.
GOOD NEWS: Was bedeutet Poesie für Sie persönlich?
Harry Fischer: Poesie ist für mich Geheimnis, Zauber, Anschauen, Entdecken und Hin-Fühlen. All das, was jeder schon lange weiß, fühlt und spürt. Für den einen ist es, wie wenn im Herbst die Blätter Purzelbäume schlagen, für den anderen sind es die Schneeflocken, die tanzen oder der Baum, der einen umarmt. Poesie ist etwas Lebendiges, doch was genau, das bestimmt jeder für sich selbst.
GOOD NEWS: Vielen Dank für das nette Gespräch. (LR)
Weitere Informationen: www.kinderpoesie.de

19.09.2011
(Ausgabe 17. September 2011)